Fast war es schon Tradition, dass ich bei den Züricher GMW-Jahrestagungen beim Konferenz-Dinner etwas präsentiere. 2006 war es die MEDIDA-Prix Verleihung, 2010 eine Twitterlesung – zusammen mit Koni Osterwalder. Dieses mal war es eine Art Rückblick: Vom CUU zum MOOC. Weniger griffig hätte ich auch sagen können: 60 Jahre Lehren und Lernen mit digitalen Medien, aber deutlich prägnanter geht es mit Akronymen. Da es zwischen Hauptgang und Dessert nicht als schwer verdaulicher Vortrag erfolgen sollte, wurden die Anmerkungen zu einigen Entwicklungssträngen der letzten 60 Jahre deshalb mit Quizfragen garniert und zwar zu einigen Akronymen, die in diesem Zeitraum mehr oder weniger treffend und mehr oder weniger bekannt in der Szene oder sogar in der allgemeinen Öffentlichkeit für bestimmte Entwicklungen, Anwendungen oder Projekte standen.
Auf den Folien finden Sie zunächst diese Akronyme, an denen Sie Ihre Kenntnisse über 60 Jahre Bildungstechnologie testen können (die Auflösungen sind jeweils auf der Folgefolie). Ergänzend habe ich unten einige Passagen aus meiner Züricher Präsentation rekonstruiert und gleich ergänzt um Links zu den Quellen.
Die akademische Welt ist nämlich ziemlich produktiv im Hervorbringen neuer Akronyme (also Wörtern aus Wortanfängen). Mit die begnadetsten Abkürzer finden sich – man glaubt es kaum – bei den Pädagogen, speziell den Bildungsforschern und – wie wir sehen werden – gerade auch bei den Bildungstechnologen.
Das bekannteste Beispiel: PISA – Programme for International Student Assessment
Auch ziemlich bekannt sind z.B. TIMMS – Trends in Mathematics and Science Study und IGLU – Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung; weniger bekannt, aber auch gut:
SNAKE – Stress nicht als Katastrophe erleben (Programm an einem Tübinger Gymnasium).
Soviel zur Einstimmung. Aber was war der eigentliche Anstoss, mich mit den Anfängen des E-Learning zu beschäftigen? Z.B. dieses Zitat von Anant Agarwal, CEO des MOOC-Anbieters EdX: The last time we gave teachers a new tool was 1862: a piece of chalk and a chalkboard. So geäußert kürzlich in einem Interview und zwar mit explizitem Bezug auf die MOOC-Plattform. Also irgendwie sind da einige Entwicklungen an Herrn Agarwal unbemerkt vorüber gegangen. Das ist allerdings nicht untypisch für viele, die eher als Seiteneinsteiger (Agarwal z.B. als Informatiker; Schwerpunkt Computerarchitektur) zuerst Anwender und dann gleich Protagonisten des E-Learning werden.
Ich fürchte allerdings, ein bisschen müssen wir uns als Bildungstechnologen wohl auch an die eigene Nase fassen. Ich habe mal nachgesehen, wie alt die Referenzen sind, die in den GMW-Tagungsbeiträgen zitiert werden (für den aktuellen und den letztjährigen Band) und wie wir sehen können, beziehen sich ca. 80% auf die letzten 10 Jahre, 95% auf die letzten 20 Jahre. D.h. was vor 1995 passierte, hat kaum Spuren bei den heutigen Akteuren und Aktivitäten hinterlassen.
Vielleicht liegt es ja daran, das wir in den letzten 10 Jahren dauernd Revolutionen (im E-Learning) erlebt haben; ich darf erinnern:
- Blogs: Weblogs have the potential to revolutionize education (Baumgartner, 2004)
- OLPC is to „revolutionize how we educate the world’s children.“ (Negroponte, 2006)
- Khan Academy is Revolutionizing Education (Ross, Pomeroy, 2011)
- Google Wave: The Google Wave Will Change Education Forever (ISTE, 2010)
- How Cloud Computing is Revolutionizing Education (Laurene Cruz, CiscoNetwork, 2011)
- MOOCs: The Big Idea That Can Revolutionize Higher Education: ‘MOOC’ (McKenna, 2012)
- Google Glass: 5 Ways Google Glass Could Revolutionize Learning (Komolova, 2013)
Die Anfangsjahre waren weit weniger revolutionär. Den Akteuren – und das waren damals die großen Computerhersteller – ging es eher um große Geschäfte in einem neuen Anwendungsfeld. Mitte der 50er gab es einige experimentelle Hochschulprojekte, die dann schnell von den Firmen aufgegriffen wurden. Einen der ersten war IBM mit dem System IBM 1500. Entwickelt wurde mit einer Autorensprache COURSEWRITER. Das ist zwar kein Akronym, beschreibt aber ganz gut, was damit zu machen war, dess sie erlaubte eine Abfolge von Inhalten, Fragen, Antworten und entsprechenden Verzweigungen zu programmieren, wie es typisch für den sog. Programmierten Unterricht war. Eine ganze Reihe solcher Systeme folgte diesem Prinzip: Tutor, Lidia, PLANIT
An dieser Stelle folgten die Fragen nach CUU, CAI und CAL. Es gab auch CBI und CBT. Eigentlich gab es für alle Permutationen von C (Computer) mit A (Aided oder Assisted), B (Based) und M (Managed) mit I (Instruction), L (Learning und T(Teaching) das entsprechend genutzte Akronym. Im deutschsprachigen Raum verbreitet war die Variante RUL (Rechnerunterstütztes Lernen). Böse Zungen behaupteten, dies sei von dem damals sehr aktiven und bekannten Stuttgarter Informatik-Professor Gunzenhäuser lanciert worden, denn dessen Vorname lautet RUL (wohl eine Abkürzung von Rudolf).
Bleiben wir bei deutschen Spezifika: Wofür stehen ALZUDI und COGENDI? Es sind die Algorithmische Zuordnungsdidaktik bzw. die Computer-generierte Didaktik zu denen sich Näheres in Helmar Franks Buch Kybernetische Grundlagen der Pädagogik findet. Von 1969 bis 1983 gab es ein eigenes von Helmar Frank geleitetes Institut, das FEoLL (Forschungs- und Entwicklungszentrum für objektivierte Lehr- und Lernverfahren) und es wurden durchaus konkrete Produkte realisiert: Bakkalaureus: Baukastensystem aus kombinierten kybernetischen Automaten leisten autonom und rechnungsunterstützte Examinier- und Schulungsarbeiten.
Die bis hierin genannten Entwicklungen werden alle dem Instruktionalismus, also dem Modell des Behaviorismus zugeordnet. Üblicherweise werden im Rahmen des technologiegestützten Lehrens und Lernens dann mindestens zwei weitere Lerntheorien genannt, der Kognitivismus und der Konstruktivismus. Hinzu kommt heute natürlich der Konnektivismus von Siemens und Downes und schließlich der Konstruktionismus von Seymour Papert, auf den sich aktuell z.B. die Maker-Bewegung bezieht. Wer allerdings meint, dies spiegele auch eine zeitliche Abfolge wider, in dem Sinne, dass daran gekoppelte Nutzungsformen von den neueren abgelöst wurden, dem muss Folgendes in Erinnerung gerufen werden:
Bereits 1960 gab es ein System namens PLATO. Es wurde an der University of Illinois unter Regie von Donald Bitzer, einem Elektroingenieur, entwickelt, der Plasmabildschirme sowie berührungsempfindliche Systeme und Grafikschirme entwickelte. Das System wurde bis 2006 produziert und eingesetzt. Es bot von Anfang an Möglichkeiten zur Vernetzung, Chat, ein Mail-System, kollaborative Dokumentenbearbeitung, u.a. auch bereits hochauflösende Grafiken für Simulationen. Heute gibt es sogar noch einen Emulator Cyber1 mit ca. 16.000 der originalen Lektionen.
Auch eine andere prägende Entwicklung datiert zurück bis ins Jahr 1967. Es ist die von Seymour Papert entwickelte Programmiersprache LOGO (diesmal kein Akronym), mit der berühmten Schildkrötengrafik und einer kindgerechten, natürlichen Geometrie. Sie ist u.a. Vorbild für ganz neue Entwicklungen wie Scratch, Snap!, PocketCode u.a. Beeinflusst hat Papert auch Alan Kay, der bereits mit dem Konzept des Dynabook, das er 1972 in einem prägenden Artikel A personal computer for children of all ages beschrieben hat, die 1:1-Ausstattung und Zugriff auf das Weltwissen bereits vorweg genommen hatte. Das war prägend für einige Entwicklungen, u.a. auch für das Projekt OLPC (One Laptop Per Child): „What would happen in a world in which everyone had a Dynabook? If such a machine were designed [as] a metamedium, whose content would be a wide range of already-existing and not-yet-invented media.“
Wir lassen die 60er und 70er hinter uns. Die 80er bringen uns den Personal Computer, aber auch Investitionen in anspruchsvolle Systeme, die die Leistung von Workstations benötigten, die ITS, die sog. Intelligenten Turoriellen Systeme. In den 80ern wurden erhebliche Mittel der EU in F&E-Projekte gesteckt, auch in solche ITS, im Rahmen von DELTA – Developing European Learning through Technology Advance. Wie nachhaltig diese Förderungsphase war, lässt sich vielleicht daran festmachen, dass es praktisch keine Informationen dazu im Web gibt, also auch nicht zu den Projekten, die eigentlich eine Fundgrube für Akronyme waren … wie auch unser eigenes namens STIMULATE (Staff Training In Media Use for Learning And TEaching).
Über die Nachhaltigkeit weiterer Förderprogramme lässt sich ebenfalls streiten. Sie wurden Ende der 90er von Bund und Ländern aufgelegt (gilt übrigens ähnlich für Schweiz und Österreich). Nach wie vor besteht VHB, die Virtuelle Hochschule Bayern, im Gegensatz zu Projekte wie ViKar oder VIROR. Meines Wissens ohne Förderung aus diesen Töpfen entstanden in dieser Zeit einige Lern-Management-Systeme, wie OLAT (Online Learning And Training) oder MOODLE (Modular Object-Oriented Dynamic Learning Environment). Mit der Virtualisierung der Hochschulen war es konkret dann nicht so weit her. Von den baden-württembergischen Projekten finden sich jedenfalls keine relevanten Spuren mehr im Netz.
Um abschließend den Bogen zum Heute zu schlagen: 2012 wurde bereits zum Jahr der MOOCs erklärt, ein Akronym, das auch schon so gedeutet wurde: Massively Overrated Online Courses. Inzwischen gibt es davon Differenzierungen wie cMOOC, xMOOC, DOCC oder auch SPOC. Ich persönlich finde ja nach wie vor, wenn die neuen Eigenschaften der cMOOCs betont werden sollen, dann sollten wir lieber von COOL (Cooperative Open Online Learning) sprechen. Leider hat Stephen Downes auf meinen Vorschlag nicht reagiert …
Das soll es dann aber auch mit den Akronymen gewesen sein. Vielleicht sind die gerade etwas aus der Mode gekommen, denn momentan mangelt es zwar nicht an Schlagworten zu neuen Entwicklungen beim Lehren und Lernen mit digitalen Medien (wie Blended Learning, Digital Storytelling, Gamification, Flipped Classroom, M-Learning), aber ich habe keine neuen Akronyme gefunden. Eine Ausnahme bilden zwei, die ich während des Strategie-Workshops auf der GMW-Tagung kennen gelernt habe: ELBE (E-Learning BErater) und HOBBITS (Hochschulbibliotheks-IT-Spezialisten) 😉
Fazit: Mit diesem kleinen Rückblick in Kürze(ln) auf 60 Jahre Lehren und Lernen mit digitalen Medien wollte ich zeigen, dass entgegen der Aussage von Prof. Agarwal zwischen Kreidetafel und MOOCs doch eine Reihe weiterer wichtiger bildungstechnologischer Innovationen stattgefunden haben. Vor allem möchte ich darauf hinweisen, dass diese Entwicklungen nicht jeweils schon abgeschlossen, ad acta gelegt und völlig von Neuerungen abgelöst worden sind, sondern dass wir es heute mit einem vielfältigen Angebot unterschiedlichster Nutzungsformen digitaler Medien im Lehr-/Lernkontext zu tun haben – und zwar aus meiner Sicht eher sich ergänzend als konkurrierend. Gerade deshalb lohnt sich immer wieder ein Rückblick und eine Auswertung der bereits vorliegenden Erfahrungen!
Es ist hier nicht der Raum für theoretische Vertiefungen, für das Aufzeigen empirischer Befunde und deren Bewertung. Wer sich für die Frühzeit der Bildungstechnologie und damit für etliche Grundlagen heutiger Entwicklungen interessiert, dem kann ich aber u.a. drei Klassiker empfehlen
- Knaurs Buch von neuen Lernen vom Sachbuchautor Walter R. Fuchs,
- Computer im Unterricht von Eyferth et al.,
- Schulmeisters Grundlagen hypermedialer Lernsysteme
- sowie den Report von Messerschmidt & Grebes zu Euphorie und Ernüchterung in 50 Jahren Bildungstechnologie.
Die ersten beiden Bücher sind gebraucht noch für je ca. 3,- € zu haben, die englische Fassung von Schulmeisters Buch und den Report gibt es als kostenlosen Download. Es gibt auch einige Websites, die sich der Geschichte der Bildungstechnologie widmen:
- History of virtual learning environments
- Virtual Museum of Educational Technology
- Educational Technology Timeline
Für richtige Antworten aus dem Publikum gab es übrigens Sprüngli number one, die der Tagungsleiter Klaus Rummler besorgt hatte. Für diese Idee muss ich ihn beglückwünschen, denn ich kann von eigenem Probieren sagen, dass die außergewöhnlich gut schmecken und sicher bei einigen Lust auf mehr geweckt haben 😉